Nylon Stockings and Samizdat. The “White Ship” between Helsinki and Tallinn in the Light of Ist Unintended Economic and Political Consequences
Nylon Stockings and Samizdat. The “White Ship” between Helsinki and Tallinn in the Light of Ist Unintended Economic and Political Consequences
Author(s): Lars Fredrik StöckerSubject(s): Economic history, Political history, International relations/trade, Post-War period (1950 - 1989), Tourism
Published by: Verlag Herder-Institut
Keywords: Nylon Stockings; Samizdat; “White Ship”; Helsinki and Tallinn; Economic and Political Consequences;
Summary/Abstract: Die Wiederaufnahme des Fährverkehrs zwischen Helsinki und Tallinn im Jahre 1965 markiert einen Meilenstein in der jüngeren Geschichte der finnisch-estnischen Beziehungen. Nachdem die Bewohner der baltischen Sowjetrepublik zwei Jahrzehnte lang fast völlig isoliert von ihren nordischen Nachbarn gelebt hatten, öffnete sich die estnische Hauptstadt Tallinn nun einem stetig anwachsenden Strom hauptsächlich finnischer Touristen. Im Verlauf des folgenden Vierteljahrhunderts entwickelte sich ein lebhafter Verkehr über den Finnischen Meerbusen hinweg, der Tallinn unabhängig von der politischen Wetterlage des Kalten Krieges mit dem Westen verband und die Stadt zu einer der touristischen Vorzeigestädte der Sowjetunion werden ließ. Die vorliegende Analyse der aus Sicht des Sowjetregimes unwillkommenen Nebeneffekte der Öffnung nach Westen thematisiert einen Aspekt, der in der historischen Forschung zum Kalten Krieg immer stärker Beachtung findet: die Vielfalt von inoffiziellen Kontakten und Einflüssen über den Eisernen Vorhang hinweg, die sich insbesondere im Kielwasser der europäischen Entspannungspolitik der 1960er Jahre entwickeln konnten. Einer der nachhaltigsten Einschnitte in das Leben der Einwohner Tallinns war die deutlich sichtbare Präsenz von Besuchern aus dem kapitalistischen Westen. Schon seit den späten 1950er Jahren hatten die Bewohner der estnischen Nordküste von der Möglichkeit profitiert, finnische Fernsehprogramme empfangen zu können, doch die persönliche Konfrontation mit westlichen Touristen potenzierte den Einfluss fremder Konsummuster und -güter. Besonders im Umfeld des mondänen Viru Hotels, des einzigen Hotels für ausländische Besucher am Ort, entwickelte sich in den 1970er Jahren ein boomender Schwarzmarkt. In den Bars und Restaurants des Hotels, die von Touristen, Mitgliedern der Parteielite und des KGB, Prostituierten und Schwarzmarkthändlern aller Schattierungen frequentiert wurden, blühte der Handel mit westlichen Konsumgütern, deren Fluss dank der regelmäßig einlaufenden Fähren aus Helsinki nicht versiegte. Das Hotel Viru und der Typus des privatwirtschaftlichen Kleinstunternehmers, den die illegale wirtschaftliche Tätigkeit im Laufe der Zeit hervorbrachte, sind längst Teil des kollektiven Gedächtnisses in Estland geworden. Ein weniger bekannter Aspekt des Fährverkehrs ist seine Bedeutung als Kommunikationskanal zwischen Dissidenten und ihren Unterstützern im Westen. Die Netzwerke zwischen Menschenrechtsaktivisten in Ost und West, die sich vor allem nach der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki im Sommer 1975 entwickelten, sind generell nur wenig erforscht. Doch ergibt sich aus KGB-Prozessakten, Erinnerungen ehemaliger estnischer Dissidenten und den umfangreichen Archivsammlungen des estnischen Exils eine Topografie oppositioneller Kontakte, für die die Fähren eine Schlüsselrolle einnahmen. Über Kuriere aus den Reihen finnischer Besucher oder der Schiffsbesatzung entwickelte sich ein funktionierender Schmuggelkanal für unzensierte Informationen und Samizdat-Schriften. Die Kommunikation zwischen Vertretern des Exils in Schweden und der nationalistischen Dissidentenbewegung legte den Grundstein für die enge Zusammenarbeit zwischen Emigration und Heimatland, die den späteren Sezessionsprozess begleiten und formen sollte. Indem die vielfältigen Formen inoffizieller Kontakte, die sich aus der Öffnung Tallinns nach Westen ergaben, umrissen werden, wird auch der Mangel an relevanter Forschung in diesem Feld deutlich. Man erhält so aber doch ersten Aufschluss über die politischen und wirtschaftlichen Nebeneffekte, die sich im Zuge des erwünschten Zuflusses westlicher Devisen in die UdSSR einstellten.
Journal: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung
- Issue Year: 63/2014
- Issue No: 3
- Page Range: 374-398
- Page Count: 25
- Language: English