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Elufilosoofia ja ajalooteadus Baltimaades: nietzsche kui Reinhard Wittrami Tunnistaja
Lebensphilosophie und Geschichtswissenschaft im Baltikum: Nietzsche als Reinhard Wittrams ‘Gewährsmann’

Author(s): Mart Kivimäe
Subject(s): Philosophy
Published by: Teaduste Akadeemia Kirjastus
Keywords: Estonia; Estonian History; Nietzsche ; Reinhard Wittram ; Gewährsmann

Summary/Abstract: Der Aufsatz behandelt den Historismus als einen neu zu erschliessenden Problembereich in der politischen und wissenschaftlichen Kultur des baltischen Deutschtums vor und nach 1945. Im Mittelpunkt steht das Historismusverständnis des führenden deutschbaltischen Historikers und Theoretikers der Geschichtswissenschaft Reinhard Wittram (1902–1973), das anhand einer kritischen Interpretation seiner historisch-politischen Publizistik und seiner wichtigsten wissenschaftlichen Vorträge der 1920er/1930er sowie der 1950er/1960er Jahre in Umrissen dargestellt wird. Die frühe dualistisch-dramatische Idee der Geschichte löst sich bei Wittram später in einer reiferen Denkform auf, die nach seinem höchst eigenständigen nichtmarxistischen Begriffsgebrauch vielleicht ‘dialektischer Historismus’ genannt werden kann. Damit wird Wittram als ein bis heute beachtenswerter Geschichtsdenker, dessen Bild in der Historiographie von der nationalsozialistischen Vergangenheit leider stark belastet ist, wieder in den heutigen Historismusdiskurs integriert. Zum Beispiel darunter auch auf das Niveau der Diskussionen der 1990er Jahre zwischen Jörn Rüsen und Otto G. Oexle gebracht, weil diese ehemalige Kritik, die Wittram am Historismuskonzept Friedrich Meineckes übte, ist teilweise aktuell geblieben. Vor allem wird hier aus der problemgeschichtlichen Perspektive die Entwicklung Wittrams ‘Axiome’ diskutiert: seine schon früh differenzierte, wenn nicht sogar durchaus ambivalente Auffassung vom Historismus überhaupt, unter dem er nicht nur einen Grundbegriff der modernen Historie, sondern auch nach dem Vorbilde von Nietzsche und Ernst Troeltsch eine Schlüsselfrage bzw. ein Lebensproblem der ganzen gegenwärtigen Kultur verstand. Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei der wittramsche Nietzsche-Kontext, die Rezeption der lebensphilosophischen Historismuskritik Friedrich Nietzsches, deren sehr entscheidende, wiederkehrende Motive seit 1934 bis 1969 aufgrund der vergleichenden Textanalyse in dieser Untersuchung aufgehellt werden. Neben dem ganz berechtigten politisch-demokratischen Kritik in Sachen der sog. Naziperiode Wittrams darf man jedoch nicht vergessen, dass Wittrams fast erbarmungslose Selbstkritik wegen seines einstigen Nationalismus im Rahmen der Volksgeschichte, mit der er die ‘Gefahr’ des historischen Relativismus neutralisieren versuchte, später ein bedeutsames Wegzeichen ist. Es ist ein Merkmal, das zeigt, wie er einen schweren Weg ging, der ihn von der durch die neukonservativen geschichtsideologischen Züge charakterisierbare Volksmetaphysik über eine nachkriegszeitliche Existenzkrise zu einem im Grunde freiheitlichen kulturell-politischen Pluralismus brachte. Das aber heisst, ihn zur prinzipiellen Umwertung des Ideenkomplexes des Nationalen im europäischen Kulturraum führte...

  • Issue Year: 2004
  • Issue No: 08
  • Page Range: 120-196
  • Page Count: 77
  • Language: Estonian