Author(s): Joachim Gauck,Alex Boraine / Language(s): German
Issue: 22/2002
Im folgenden möchte ich über die Besonderheiten, die historische Bedingtheit sprechen, die den deutschen Weg des Umgangs mit der Vergangenheit von den Lösungen unterscheidet, die in anderen Ländern nach der Wende
gewählt wurden. Die Situation in Deutschland zeichnet sich zum einen dadurch aus, dass hier die Politik nach 1990 auf eine bereits gemachte komplexe Erfahrung mit dem Phänomen des »Schlussstrichs« aufbauen konnte. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die meisten Deutschen keine Lust, sich genau zu erinnern. Es gab auch einige, die anders dachten: Sie kamen als Überlebende aus Auschwitz oder den anderen Lagern, sie kamen aus den Zuchthäusern, sie kamen aus dem Exil, auch aus dem inneren Exil. Es war eine Minderheit, die wir stärker ehren und erinnern sollten. Doch der öffentliche Diskurs wurde von der Mehrheit bestimmt, und das kollektive Gedächtnis der Deutschen war in klassischer Weise selektiv. Der Führer, so
meinten etwa 75% der Deutschen damals, hatte nicht alles schlecht gemacht: Er hat die Autobahn gebaut, es gab Vollbeschäftigung und keine Kriminalität. Freilich sind die Deutschen mit diesem gezinkten Erinnern auf die Dauer nicht glücklich geworden. Bei der ersten Generation nach dem Kriege funktionierte es noch. Sie folgte gerne Churchills Rede von der gesegneten Gabe des Vergessens. »Jawohl«, sagten sie sich, »recht hat der Mann. Früher haben wir ihn gehasst, er mag ein Kriegsverbrecher sein, aber mit dem Vergessen hat er recht.« Die Störenfriede aus der jüdischen Gemeinde, aus den engagierten christlichen Gruppierungen, aus den kommunistischen
und gewerkschaftlichen Bereichen hingegen fanden außerhalb
ihrer eigenen Kreise kaum Gehör.
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